Titel
1803 - Wende in Europas Mitte. Vom feudalen zum bürgerlichen Zeitalter. Begleitband zur Ausstellung im Historischen Museum Regensburg 29. Mai bis 24. August 2003


Autor(en)
Schmid, Peter; Unger, Klemens
Erschienen
Regensburg 2003: Schnell & Steiner
Anzahl Seiten
640 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ewald Frie, Fachgruppe Geschichte, Universität Essen

Regensburg war Sitz des Immerwährenden Reichstages. Hier wurde daher 1803 das letzte Reichsgrundgesetz des Alten Reiches verabschiedet. Es handelte sich um die Ergebnisse eines 1802 zusammengerufenen Reichstagsausschusses, der die Entschädigung der wegen des französischen Ausgreifens bis zur Rheingrenze linksrheinisch depossedierten Reichsglieder regeln sollte. Die Entschädigungsmasse kam zusammen durch Säkularisation der geistlichen Territorien und durch Mediatisierung mindermächtiger Reichsstände. Rechtlich vorgezeichnet durch die Sonderfriedensschlüsse deutscher Staaten mit Frankreich in den 1790er Jahren war der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 politisch, wirtschaftlich, sozial, kulturell und religiös folgenreich. Zu seinem zweihundertjährigen Jubiläum zeigt das Historische Museum der Stadt Regensburg im Sommer 2003 eine große Ausstellung mit dem Titel „1803 – Wende in Europas Mitte“.

Der Begleitband, umfänglich und reich bebildert, besteht aus zwei Teilen. Zunächst werden zehn Vorträge abgedruckt, die im Rahmen einer Vortragsreihe an der Universität Regensburg zum Thema „1803 – Regensburg im Brennpunkt einer europäischen Epochenwende“ entstanden sind. Dem ersten Teil angehängt sind zwei ergänzende Aufsätze zur Stadtbaugeschichte und zur Fragestellung „Säkularisierung der Volkskultur?“ Dann folgt der Katalog der Ausstellung, gegliedert in neun Abteilungen: Ancien Régime/Altes Reich; Revolution und Krieg; Kongress in Regensburg; Dalberg und Deutschland, Dalberg und Regensburg; Säkularisation; Napoleon; Regensburg wird bayerisch – und die Welt wird neu geordnet; Romantik; Von der Reichsstadt zur Walhalla – Regensburg als Denkmallandschaft. Am Anfang jeder Abteilung steht im Katalog eine ein- bis zehnseitige lexikalische Einführung. Dann werden die Exponate aufgelistet, teils auch abgebildet, immer aber recht ausführlich beschrieben. Weil Vortragsteil und Katalog unterschiedlich gegliedert sind und der Katalog selbst zwischen lexikalischen Einführungen und Exponatbeschreibungen Brechungen enthält, entstehen für den Leser teils lehrreiche, teils ermüdende Déja-vu-Erlebnisse.

Die Abteilungen des Katalogs changieren zwischen Lokal-, Regional- und Nationalgeschichte sowie europäischer Geschichte. Gleiches gilt für die Vorträge und Aufsätze. Einige von ihnen (Peter Schmid über Verfassungsentwicklung, Hans-Christoph Dittscheid über die Dalbergs als Bauherren, Bernhard Gajek über das literarische Leben, Michael Drucker über Bibliotheken, Jörg Traeger über Napoleon-Bilder aus Bayern, Eugen Trapp über Stadtbaugeschichte) entscheiden sich für eine Argumentation auf der lokal- bzw. regionalgeschichtlichen Ebene und sind daher für den Nicht-Landeshistoriker von geringerem Interesse. Im Gegensatz dazu sieht Hans-Jürgen Becker vom Ort Regensburg weitgehend ab, wenn er ebenso knapp wie instruk-tiv in die mitteleuropäische Geschichte des Reichsdeputationshauptschlusses einführt.

Anderen Autoren gelingt es, gerade aus der Interaktion der verschiedenen Ebenen Gewinn zu ziehen. Das gilt für Albrecht P. Luttenberger, der „die politische Tragik Karl Theodors von Dalberg in seiner Rolle als letzter Kurerzkanzler des Reiches“ (S. 79) beschreibt und dadurch zugleich die Denkräume und Handlungsoptionen eines vom raschen Wandel der Jahre 1789ff. überforderten Teils der politischen Elite deutlich macht. Das gilt für Wolfgang Horn, der in seinem Essay über „Stadt und Musik im Ancien Régime“ zwar keinen großen Komponisten in Regensburg ausmachen kann, aber gerade deswegen die Kultur des 18. Jahrhunderts und den Umbruch der Jahre 1803/06 plastisch werden lässt. „Die sozialen Umbrüche trafen mit Veränderungen des Musikmarktes und dem Typus des um seiner Kunst willen Ehrfurcht gebietenden Komponisten zusammen und haben die Gewichte im Musikleben deutlich verschoben. In Regensburg verschwanden das höfisch Divertissement wie auch das höfisch Konzert zugleich mit der Gesellschaft zu der sie gehörten.“ (S. 183) Das gilt schließlich besonders für Christoph Meinel, der die Naturforschung in Regensburg um 1800 untersucht. Ihn interessieren „lokale Denkstile städtischer Wissenschaftskulturen, deren intellektuelles Profil sich aus dem besonderen Milieu des Ortes erklärt“ (S. 225), die aber in einen europäischen Wissenschaftsdiskurs über die Natur am Ende der Aufklärung hinein gewoben sind. In Regensburg beschreibt er „das Auseinanderfallen [der empirischen Naturforschung] in zwei unterschiedliche Milieus, in denen unterschiedliche Wissenschaften und Wissenschaftsstile kultiviert wurden. Auf der einen Seite das ‚aristokratische’ Milieu der Klöster und adeligen Salons, die sich der Astronomie und der Experimentalphysik verschrieben hatten; auf der anderen Seite das ‚bürgerliche’ Milieu der Pastoren, Verwaltungsbeamten, Ärzte und Apotheker, die naturhistorischen Gegenständen, vor allem der Botanik, zuneigen.“ (S. 211)

Insgesamt überzeugt der Begleitband zur Ausstellung „1803 – Wende in Europas Mitte“ durch seinen Reichtum an Facetten. Dies ist einer Epoche angemessen, die im Untergang der ständischen und vor der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft große Möglichkeitsräume und Gefahren bereithielt. Historikerinnen und Historiker sollten sie nicht vorschnell negieren, indem sie sich auf Tendenzen konzentrieren, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts durchgesetzt haben. „In unseren Tagen ist die Welt wie ein Theater: Alle Augenblicke bekommt sie ein neues Ansehen“, zitiert Albrecht P. Luttenberger in seinem Dalberg-Aufsatz einen Zeitgenossen des Jahres 1809. Gerade an der Geschichte des letzten Reichserzkanzlers, der als letzter ‚Herrscher’ über Regensburg vor der bayerischen Zeit in dem Band eine bedeutende Rolle spielt, und an der Verzeichnung seiner Rolle durch die Geschichtswissenschaft seither wird deutlich, wie notwendig und wertvoll eine multiperspektivische Herangehensweise an die Zeit um 1800 ist.